Hiddensee - Der Ermit von Mascha Kaléko

Gedanken über Outing und Stigma

Johanna Weber -- 29.11.2014   Themen: Gedanken

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DER EREMIT

Sie warfen nach ihm mit Steinen.
Er lächelte mitten im Schmerz.
Er wollte nur sein, nicht scheinen.
Es sah ihm keiner ins Herz.

Es hörte ihn keiner weinen.
Er zog in die Wüste hinaus.
Sie warfen nach ihm mit Steinen.
Er baute aus ihnen sein Haus.

Mascha Kaléko

Im nebeligen November auf der urgemütlichen Ostseeinsel machte ich ihre Bekanntschaft. Der Name Mascha Kaleko war mir natürlich schon ein Begriff und stand immer auf meiner „Mußt-du-unbedingt-Mal-was-von-lesen“-Liste. Das Besondere an solchen imaginären Listen ist ja, dass sie nur theoretisch existieren und praktisch nie wirklich abgearbeitet werden.

Auf Hiddensee kam es dann aber anders.

Das Eiland erfreut und erfreute sich großer Beliebtheit bei der schreibenden Zunft, besonders zu Beginn und Mitte des letzten Jahrhunderts.
Gerhard Hauptmann scheint sein halbes Leben dort verbracht zu haben. Wenn sein Weinkeller leer war, galt dies als scherzhaftes Zeichen für das Ende des Sommers auf Hiddensee.

Auch Mascha Kaleko zog es immer wieder auf die von ihrer Wohnstatt in Berlin schnell erreichbare Insel in der Ostsee.

Das Wort Gebrauchslyrik taucht immer wieder in Kalekos Zusammenhang auf.

Ich konnte damit nicht so viel anfangen, doch nach dem Lesen der ersten Gedichte wußte ich, was damit gemeint ist. Sofort fand ich mich in ihrem Zeilen. Sie beschreibt Alltagssituationen und wirft darauf ein neues Licht.

Viel Melancholie findet sich dort, die ich nicht so teile. Doch ihre messerscharfe Beobachtungsgabe und die Fähigkeit mit Worten umzugehen begeisterte mich so sehr, dass ich mir zwei Gedichtbände kaufte. Die mußten natürlich auch auf Hiddensee gelesen werden. Dazu lädt der trübe November ja ein.

Im Gedicht „der Eremit“ sah ich sofort mich selber.

Als Sexarbeiterin geht es mir sehr ähnlich. Oder sind wir nun eigentlich Sexdienstleisterinnen? Wir haben das im Kolleginnenkreis neulich diskutiert.
Nun, wie dem auch sei. Als Prostituierte grenzt die Gesellschaft dich aus. Du bist nicht willkommen. Man hat ein Problem mit dem was du tust.

Mit Steinen wirst du als Sexarbeiterin in unserem Kulturkreis natürlich nicht beworfen aber mit Vorurteilen.

Jeder weiß, wie schlimm deine Arbeit sein muss aber keiner fragt dich danach.
Keiner sieht dem Eremiten in Herz.
Geweint wie der Eremit habe ich nicht, aber in meinem Kopf formte sich sofort bei Lesen dieser Zeile ein konkretes Bild. Nämlich, dass die Gesellschaft nicht sieht, was das große Problem von mir und meinen Kolleg:innen ist. Unser Problem ist nicht unser Job, sondern wie die Menschheit damit umgeht. Diese Stigmatisierung. Sogar ich erlebe sie.

„Aber so eine Frau wie du, die muss DAS doch nicht machen!“

Der Eremit ging in die Wüste und baute sich aus den auf ihn geworfenen Steinen ein Haus. Nun, in die Wüste bin ich nicht gegangen, aber ich muss sagen, dass mir diese ständige Auseinandersetzung Kraft gegeben hat. Nun, ich war schon immer eine starke Frau, aber ich fühle mich erst jetzt so richtig frei.

Wie sagt der Volksmund: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich völlig ungeniert!

Es gibt irgendwo im Netz sogar eine Studie aus Australien oder Neuseeland, wo die Lebenszufriedenheit von Sexarbeiter_innen erforscht wurde. Wenn ich den LINK nur wieder finden würde.
Also, es gab drei Versuchsgruppen:

a) Prostituierte, die nicht geoutet sind, also ihre Arbeit verheimlichen (einige erzählen das ja nicht Mal ihrem Ehemann)

b) Normal Beschäftigte

c) Prostituierte, die komplett geoutet sind und jeder weiß was sie machen

Und was war das Ergebnis? Gruppe a) hat eine geringere Lebenszufriedenheit als Vergleichsgruppe b)

Oh Wunder :-)

Aber, und das macht mir Mut, Gruppe c) ist zufriedener als die Vergleichsgruppe b)

Sexarbeit kann auch Medizin sein!


Das Gedicht "der Eremit" findet sich in "Verse für Zeitgenossen" von Mascha Kaleko

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